Erstelle eine Website wie diese mit WordPress.com
Jetzt starten

Ich BIN adoptiert: „As if born to“ ist immer noch aktuell

„Generally, my interpretation disputes widely held beliefs that suggest problems of identity in adoption are caused by early attachment disturbance. Instead, following a social construction approach, my different interpretation of adoption claims that the primacy of the biological family as a cultural ideal causes harm to adopted persons“ (Beauchesne, 1997, S. 15)

Ich stieß bei meinen Recherchen über Adoption in Fiktion auf eine Arbeit, die auf den ersten Blick nichts mit Fiktion zu tun hat, auf „As if born to“ von Lise M. Beauchesne von 1997. Der Untertitel erläutert es genauer: „The social construction of a deficit identity position for adopted persons“.

Wegen des Alters und des Titels der Arbeit ging ich davon aus, dass dieses Thema mich nur am Rande beträfe. Ich ging davon aus, dass es von älteren Adoptierten handelte, die sich für die leiblichen Kinder ihrer Eltern ausgeben mussten und deshalb Minderwertigkeitskomplexe entwickelt hatten. Ich hatte keine Ahnung von der eigentlichen Botschaft.

Zum Teil traf mein erster Eindruck zu. Beauchesne ist selbst adoptiert und konnte jahrzehntelang nicht über ihre Geschichte sprechen. Aber bereits die ersten Kapitel fesselte mich und forderte mich. Sie behauptet doch darin glatt, dass Traumata als Ursache für Probleme von Adoptierten überschätzt werden!  (Beauchesne, 1997, S. 15)

In meiner Jugend und meinen frühen Zwanzigern sah ich in Trauma eine gute Erklärung für meine Schwierigkeiten, meine Komplexe. Ich ging zeitweise auch in psychologische Beratung. Dort schien sich mein Eindruck zu verstärken, schließlich führte dort der Berater vieles auf Traumata, die ich als Heimkind erlitten hatte, zurück. Deshalb glaubte ich, dass meine Entfremdung und meine Wut dadurch erklärbar waren.

Wie ich dann die Arbeit las, merkte ich erst, wie ich falsch gelegen hatte. Nicht unbedingt, dass ich durch die Vernachlässigung im Heim traumatisiert worden war, das nicht, sondern ich lag falsch in der Annahme, dass Adoption selbst unbedingt traumatisiert. Dass Adoption selbst das Problem war (S. 44). Ich erinnerte mich, ich war oft neidisch auf Nichtadoptierte, weil sie scheinbar etwas gehabt hatten, was ich nicht gehabt hatte und dessen Lücke anscheinend nicht zu füllen war: Sie konnten bei ihren leiblichen Eltern aufwachsen.

Egal, wie sehr sich meine Adoptiveltern auch bemühten, letztendlich würde mir das immer fehlen und meinen zukünftigen Lebensweg zeichnen. Und deshalb war Adoption schlecht, egal, wie positiv ich sie als Kind gesehen hatte, wie eng meine Beziehung zu meinen Adoptiveltern auch war. Und genau darin hatte ich mich geirrt, wie Beauchesne demonstrierte.

Ich irrte mich allerdings nicht allein: auch meine Adoptiveltern denken so, letztendlich denkt auch die Gesellschaft so.

Die Gesellschaft denkt eben nicht bloß, dass Adoptierte durch Vernachlässigung, mögliche erfahrene Gewalt traumatisiert sind, sie geht auch davon aus, dass alle Adoptierten mit den leiblichen Eltern etwas Entscheidendes für ihre psychische Entwicklung verlieren. Selbst wenn die leiblichen Eltern Fremde sind, selbst wenn die leiblichen Eltern sich nie um das Kind hätten kümmern können. Das führt dazu, dass Adoptierte sich nur über das identifizieren können, was ihnen fehlt. Ich suchte nach meiner Herkunft (ich hatte Glück und musste nicht viel suchen) und fand die Bestätigung dafür: Meine leiblichen Eltern hätten sich nie um mich kümmern können, auch damals nicht. Sie waren zwei Fremde, die ich erst durch Erzählungen als meine ersten Eltern „kennen gelernt“ habe.

Es gibt Adoptierte, die HATTEN eine enge Verbindung zu den leiblichen Eltern und leiden unter den Verlust. Es gibt Adoptierte, die können durch offene Adoption eine Beziehung aufbauen. Ich kenne einen Adoptierten, der hat nach Jahrzehnten noch eine Beziehung zu seinen leiblichen Geschwistern aufgebaut. Aber in all diesen Fällen stehen emotionale Bindungen im Zentrum, eine aktiv gelebte Beziehung, welche die Adoptierten als Bereicherung empfinden. Beauchesne hingegen argumentiert bloß, dass Adoptierte sich nicht verpflichtet fühlen sollten, auf Blutsverwandtschaft, die vielleicht fremd, nicht zugänglich oder gar bedrohlich ist, zu setzen, nur weil ihnen die Gesellschaft Illusionen über biologische Verbindungen in den Kopf gesetzt hat.

Nun möchte ich hinzufügen, dass meine ersten Eltern sehr wohl eine Rolle in meinem Leben gespielt haben: Sie haben mir das Leben gegeben und sie waren meine Vormünder in meinen ersten Jahren. Zeit mit meiner ersten Familie verbrachte ich kaum als Baby. Schätzungsweise nach ein paar Wochen kam ich in ein Kinderheim. Ich kann mich noch daran erinnern, wie ich mir „jemand für mich allein“, doch dachte ich dabei niemals an die ersten Eltern. Die kannte ich ja gar nicht.

Als ich nun sie beide traf, kam ich schon mit der Erwartung, dass sie „väterlich“ und „mütterlich“ auf mich reagieren müssten. Schließlich waren sie in den Erzählungen meiner Adoptivmutter als meine Eltern vorgestellt worden. Das taten sie nicht. Mein erster Vater konnte sich kaum an meinen Namen erinnern und bat um Geld, und meine Mutter war zu krank, um sich überhaupt an meine Existenz zu erinnern. Sie zu besuchen war wichtig für mich, denn es bestätigte für mich, wer meine wirklichen Eltern waren: meine Adoptiveltern. Deswegen bin ich absolut dafür, dass Adoptierte das Recht haben sollten, nach ihren ersten Eltern, nach ihrer ersten Familie zu fragen und zu suchen.

Aber nicht unbedingt, um eine besondere biologische Bindung zu den leiblichen Eltern zu spüren, sondern um ihre Geschichte zu erfahren. Weniger wichtiger ist es für mich, dass ich von ihnen abstamme, sondern dass Teil meiner Geschichte sind.

Beauchesne stellt eine weitere These auf, die auf die erste aufbaut. Die Annahme, dass Adoptierten mit ihren leiblichen Eltern etwas Entscheidendes fehlt ist pathologisierend und entwertet von Anfang an ihre Bindungen zu den Adoptiveltern (S. 11). Adoptierte fühlen sich deshalb zerrissen, entfremdet und minderwertig.

Ich war platt, als ich das las. Das beschreibt so ziemlich meine Gefühle, die mich regelmäßig heimsuchten. Hatte ich in meiner Kindheit meine Adoption als etwas sehr Positives gesehen, sah ich es zunehmend mit Bitterkeit: Die Lücke würde sich nie schließen lassen können. Das machte mich wahnsinnig, wie ein Phantomschmerz juckte mich was, was letztendlich doch nicht fassbar war.

Die Zentralität von Blutsverwandtschaft verunsichert auch Adoptiveltern. Ich erinnerte mich daran, wie meine Adoptivmutter mir oft gesagt hatte, sie hätte Angst, dass sie eigentlich nicht meine Mutter sein dürfte, sie fürchtete, dass sie einer anderen Mutter das Kind vielleicht weggenommen haben könnte. Das sagte sie, obwohl sie wusste, dass sich meine erste Mutter sich nie um mich gekümmert hatte.  Meine zweite Mutter hingegen litt dazu zusätzlich noch darunter, dass sie keine leibliche, „eigene“ Kinder bekommen wurde (S. 60-61). Meine Interpretation ist, dass sie deshalb eine „Erlaubnis“ von der ersten Mutter brauchte, weil sie wie alle verinnerlicht hatte, dass leibliche Kinder „eigene Kinder“ sind, Adoptivkinder allerdings nicht (S. 5-6).

Beauchesnes Arbeit hat mich erschüttert. Es hat mich dazu gezwungen, einige und fremde Interpretationen meiner Geschichte zu hinterfragen, die ich so lange gehegt hatte. Es ist nicht die einzige Perspektive auf Adoption, aber es ist die, die mich am meisten beeindruckt, die am meisten explizit herausfordernd und politisch ist.

Beauchesnes Thesen sind bereits zentral in meiner „adoptierten Perspektive“, obwohl ich sie erst seit kurzem kenne. Ihre Arbeit und jene von anderen wird im Blog noch vorkommen.

Vor dieser Lektüre glaubte ich, dass „Ich bin adoptiert“ wie ein Fluch ist, der mich fesselt. Inzwischen ist es Zeugnis meiner Erfahrung, meiner adoptierter Perspektive auf die Welt.

Beauchesne, Lise M, (1997): As if born to. The social construction of a deficit identity position for adopted persons; Wilfrid Laurier University.

Eine Antwort zu „Ich BIN adoptiert: „As if born to“ ist immer noch aktuell”.

  1. […] Personen brauchen mehr Bildung und Raum, uns zu erforschen, Stereotype zu hinterfragen und Gegennarrative zu […]

    Like

Kommentar verfassen

Trage deine Daten unten ein oder klicke ein Icon um dich einzuloggen:

WordPress.com-Logo

Du kommentierst mit deinem WordPress.com-Konto. Abmelden /  Ändern )

Facebook-Foto

Du kommentierst mit deinem Facebook-Konto. Abmelden /  Ändern )

Verbinde mit %s

%d Bloggern gefällt das: