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Scharlachrote Augen: Adoption in „Moriarty the Patriot“

Ich wollte eigentlich eine Sherlock-Holmes-Geschichte lesen und wurde mit einer fiktiven Adoptionsgeschichte konfrontiert.

Ich bin fasziniert vom ersten Kapitel, davon, dass der Napoleon des Verbrechens aus drei Personen besteht, zwei davon adoptiert und einer von ihnen queer kodiert. Mir ist allerdings nicht entgangen, dass die Kombination Waisenkinder, Kriminalität und Adoption ein ungutes Klischee ist. Ich konzentriere mich bei meiner Analyse auf die ersten zwei Bände.

Moriarty, der legendäre Gegenspieler von Sherlock Holmes, als Protagonist

Inhalt: Der junge Adlige Albert James Moriarty hasst sein Leben als Erbe eines Lords im Britannien des 19. Jahrhunderts. In einem Waisenheim trifft er auf einen geheimnissvollen genialen Jungen und dessen Bruder, die von Rebellion gegen die Obrigkeit sprechen. Dank Albert werden die beiden von den Morartys adoptiert. Sie helfen Albert, seine Eltern und seinen jüngeren Bruder zu töten. Das junge Genie übernimmt die Identität des getöteten Bruders, William James Moriarty. Zu dritt planen sie Rache an der Aristokratie.

Ich halte besonders William Moriarty für einen verkörperten Alptraum über Adoption: Er ist ein aufgenommenes  Kind, der als Dämon dargestellt wird, er wickelt alle um den kleinen Finger, lächelt süß, tötet dann seine Adoptivfamilie und stiehlt die Identität seines nichtadoptierten Bruders.

Man konnte zum Schluss kommen, dass William seine Adoptiveltern so leicht umbringt, weil sie bloß Adoptiveltern sind, wobei vergessen wird, dass seine Adoptivmutter nicht einmal wollte, dass er sie Mutter nennt (Takeuchi, 2020, S. 19), und sie ihn und seinen Bruder schlägt. William und Louis haben überhaupt keinen Grund, den Earl und die Lady zu mögen, ja gar als Eltern zu aktzeptieren. Nicht einmal bei ihren biologischen Kindern sind sie beliebt. Alfred als leibliches Familienmitglied hasst diese Familie so sehr, dass er selbst bei der Ermordung mit Hand anlegt und diesen Schritt nie bereut (S. 54).

Die Entscheidung, William visuell dämonisch wirken zu lassen, macht ihn sicherlich interessant und erinnerungswürdig, aber es lässt seine Beweggründe übernatürlich erscheinen. Er ist treu nach der originalen Figur ein Verbrecher, aber im Manga ein Mensch, der sich um Gerechtigkeit kümmert und ein Opfer des System war, leider wird relativ wenig des Systems gezeigt.

Bei Moriarty haben wir es mit einem Lügner und Täuscher zu tun und dies hängt hier explizit mit seinem Status als Adoptierter zusammen. Hier werden die Befürchtungen über Adoption als Täuschung (Novy, 2007, S. 7) benutzt, um speziell William Moriarty mysteriöser zu machen.

Der Identitätsdiebstahl verbirgt nicht nur seine armselige Herkunft, seinen früheren Namen, sondern gibt ihn auch noch als leiblichen Bruder von Albert James Moriarty aus. Hier haben wir es eindeutig mit dem „So-als-ob“-Narrativ (Novy, 2007, S. 7) in seiner Reinform zu tun. Im Manga ist dies für beide aufgenommenen Brüder die einzige Möglichkeit, dem Stigma ihrer niedrigen Herkunft zu entkommen (Takeuchi, 2020, S. 17-18). Allerdings macht dies die Adoption zur Lebenslüge und verschärft auch ihre Abhängigkeit zu Albert Moriarty, zu dessen Komplizen sie sich weiterhin machen. William mag diesen Handel bewusst eingehen, es ist aber dennoch ein Handel, bei dem er die schlechteren Karten als Albert hat.

Scharlachrote Augen? Sehr subtil!

Es ist bezeichnend, dass Moriarty, der explizit adoptiert wird, als Kind nicht unbedingt als ohnmächtig erkennbar ist, sondern im Gegenteil gar als dämonischer Verführer interpretiert werden kann (Takeuchi, 2020, S. 41-44). Wir müssen uns allerdings in Erinnerung rufen, selbst wenn das Waisenkind mit großem Selbstvertrauen Albert entgegen tritt, es davon ausgeht, dass es mit seinem Bruder an die Polizei ausgeliefert wird (S. 62).  Der jüngere bedroht Albert gar mit einem Messer, bereit, seinen großen Bruder zu verteidigen. Es ist Albert, der nach diesen Worten sagt, dass er den Jungen bei sich haben will (der jüngere ist eher Anhängsel). Auch wenn William Albert in dieser Szene keck fragt, ob er nicht „neugierig“ (S. 62) sei, das Machtgefälle zwischen Albert und den beiden Brüdern ist enorm. Sie sind auf ihn angewiesen, er hat alle Ressourcen und selbst von einem Verbrechen weniger zu verlieren als sie.

Dabei behandelt Albert sie besser als deren Adoptiveltern. William und Louis werden von den Moriartys aufgenommen, von ihnen nicht als deren Kinder akzeptiert, ja, eigentlich auch nur zur Täuschung: sie wollen als mildtätig gelten und die Kinder gleichzeitig als unbezahlte Haushaltshilfen benutzen (S. 17-18). Das entspricht sogar der historischen Wahrheit (Dudley, 2001, S. 21). Jene, die Adoption hier zur Lüge machen, sind der Earl und die Lady selbst.

Deshalb ist es nicht verwunderlich, dass die Brüder zu Alfred halten, der sie immerhin wie Menschen behandelt. Alfred selbst ist es, der den Mord an seinen Eltern und seinem  kleinen Bruder wünscht (Takeuchi, 2020, S. 46-47). Er selbst legt eifrig Hand an. Alfred enttarnt also die Vorstellung, dass leibliche Kinder ihre Familien automatisch lieben. Er widerlegt besonders die These, dass ihm das Aufwachsen in seiner leiblichen Familie gut getan hätte. Im Gegenteil, seiner Familie beim Essen beiwohnen zu müssen, erfüllt ihn mit Abscheu und dem Gefühl der Entfremdung (S. 33 – 37).

Die neue Familie, in der jeder eine feste Rolle hat

Obwohl die Brüder mit Alfred ein besseres Leben führen, scheinen sich gewisse Hierarchien bei ihnen wieder gefunden zu haben. Alfred ist nicht nur der älteste Bruder, sondern auch der, der von der kriminellen Tätigkeit am meisten in seiner Karriere profitiert (Takeuchi, BD 2, 2020, S. 12–13) William beschafft ihm einen Posten im Geheimdienst, während Louis für die neue Familie als unbezahlter Butler und Putzkraft arbeitet. William befindet sich zwischen den beiden: Er gilt als Kopf der Bande, der die Pläne ausheckt. Somit präsentiert sich William als charismatischer Protagonist und Anführer. Doch Albert verrät sich, wenn er davon ausgeht, dass William wegen seiner Intelligenz so beliebt ist (Takeuchi, 2020, S. 46). Das lässt mich vermuten, dass Albert, egal, was er sonst noch gegenüber William empfindet, ihn als Ressource benutzt. Das sehen wir vor allem darin, wie sehr er ihn bewundert, wie distanziert ihr Verhältnis trotzdem ist und wie wenig er Louis im Gegensatz zu beachten scheint. Vergessen wir nicht, dass in dem Moment die Kinder noch vollkommen abhängig von Albert sind und dass es deshalb hauptsächlich Williams Leistungen sind, die ihnen eine Zukunft sichern.

William Moriarty, indem er sich als der Zweitgeborene der Moriartys ausgibt, gibt sich auch als Adliger aus, einen Status, den man nur als legitimer Nachkomme von Adligen erlangen kann. Durch die Täuschung wird sein Gesellschaftsstatus nicht in Frage gestellt. Er wird vom Meisterdektektiv Sherlock als Adliger erkannt (Takeuchi, BD 2, 80), was zwei Schlussfolgerungen zulässt: Moriarty spielt seine Rolle so perfekt, sodass er Sherlock täuscht, oder er hat die richten Verhaltensweisen dadurch erworben, indem er sich von klein Adligen auf Augenhöhe begegnet ist, was beweisen würde, dass leibliche Abstammung nicht den Adligen macht.

Williams freundliches Lächeln ist es, was ihn als einem Manipulierer, Betrüger und Lügner kennzeichnet. Er bietet Armen seine Hilfe an, und macht sie dadurch zu Komplizen in einem Kapitalverbrechen (wenn er auch ihnen garantiert, dass es keine Spuren geben wird), er bietet einem Adligen seine Hilfe an und verstrickt ihn in ein Mordkomplott, was in dem Selbstmord des Adligen führt (BD 2, S. 129-130 ). Für die Arbeiter und Arbeiterinnen äußert er offensichtlich Sympathie, doch er sichert sich auch ihre Loyalität, einige werden zu zukünftige Komplizen. Was sind seine wahren Motive? Die Antwort gibt der dieser als kleines Kind, als er Leuten beim Planen eines Bankraubes hilft:

„So hab ich das schon immer gemacht… Leihe ich anderen mein Wissen, kriegen wir zum Dank Geld und was zu Essen. So können wir in Frieden leben, statt uns mit klauen durchschlagen zu müssen. Und da selbst jemand wie ich einem anderen weiterhelfen kann… wäre ich bereit, alles zu tun!“ (Takeuchi, 2020, S. 41-42)

Er verrät hier einiges über sich selbst. Er und sein Bruder helfen Leute, um selbst zu überleben. Andere Leute brauchen Hilfe auch in illegalen Aktivitäten, die gegen die verhasste Obrigkeit gerichtet sind. Dies stärkt das Band, dass die beiden Brüder mit den Leuten in seinem Viertel und im Heim haben. Schon früh bedeutet helfen für diesen Jungen, Gesetze zu brechen und Gewalt anzuwenden. Die anderen Kinder im Heim erzählen ihm, wie sie und ihre Eltern von Adeligen gedemütigt und ausgebeutet worden sind, und er rät ihnen, sich mit Gewalt zu wehren (Takeuchi, 2020, S. 44). Illegale Taten und Gewalttaten sind für ihn von klein auf selbstverständlich. Er lügt gar nicht, er spricht aus seiner tiefsten Überzeugung. Die einzigen, die er gar nicht leiden kann, und denen er etwas vorspielt, sind die meisten Adligen, deren Niedergang er schon plant. William ist nicht unheimlich, weil und wenn er etwas vorspielt, William ist deshalb unheimlich, weil er in seinem Extremismus aufrichtig ist. Ein zweiter Aspekt, der damit verbunden ist, dass ausnützen und helfen für ihn dasselbe ist.

„Menschen nutzen sich gegenseitig aus. Man hilft sich. Das muss nichts Schlechtes sein.“ (Dolye, Takeuchi, Miyoshi, 2018, S. 32)

Moriartys moralischer Kompass ist vollständig von seinem Überlebenskampf und seinem Versuch, dort Bindungen zu finden, geprägt. Beziehungen ohne Ausbeutung oder Transaktionen scheint er nicht zu kennen.

Moriarty kann deshalb in zweifacher Art interpretiert werden: Er kann als Bestätigung für unterschwellige Befürchtungen rund um Adoption gelesen werden, dass Adoption ein „minderer Ersatz“ für eine „echte, biologische Familie“ ist, und dass sie deshalb Personen hervorbringt, die buchstäblich die Familie und die Gesellschaft bedrohen (Beauchesne, 1997, S. 10). Er kann aber auch als Beispiel gesehen werden, wie die Stigmatisierung von Adoptierten, Waisen und unehelichen Kindern Adoptierte auf einen destruktiven Weg schickt. Wenn man auch nicht Moriartys Taten zustimmen muss, seine Wut auf die Gesellschaft wird verständlich, wenn man bedenkt, dass genau diese ihn und seinen Bruder auf deren „niedrige Geburt“ und ihren Status als „arme Waisenkinder“ beschränken und klein halten will (Takeuchi, 2020, S. 24). Die einzige Möglichkeit, mit der dieser Junge mit seinem Bruder lesen lernen konnte, war, heimlich in einer Bibliothek zu leben. Alles, was dieser Brüder sind, mussten sie sich erstehlen (S. 39-40). Dass er dann zum Schluss kommt, dass Gewalt gegen die Obrigkeit und Selbstjustiz gerechtfertigt sind, ist nachvollziehbar.

So gesehen ist es wunderbar, dass der Verbrecherkönig Moriarty adoptiert ist. Gerade jemand, der adoptiert ist, leidet unter einer explizit darwinistischen Gesellschaft, die extrem viel Wichtigkeit auf biologische Abstammung legt und mit rassistischen Ideen durchtränkt ist (Beauchesne, 1997, S. 44). Klasse und die Obsession mit der Vererbung waren damals eng verknüpft. Gerade ein Adoptierter wäre in so einer Gesellschaft besonders isoliert, besonders auf seine Herkunft reduziert, pathologisiert und problematisiert. Aber weil das Manga und somit auch das Anime die soziale Härte von damals vielfach auslässt, kann auch das nicht zur genüge thematisiert werden und wir müssen uns damit begnügen, dass William und Louis auf ihre niedrige Herkunft reduziert werden. Die Botschaft des Werkes leidet entsprechend darunter und erfüllt nicht das enorme Potential, das sich im ersten Kapitel gezeigt hat, in denen zwei Adoptivkinder ihrem Bruder helfen, dessen Familie auszulöschen.

Doyle, Arthur Conan/Takeuchi, Ryosuke/Miyoshi, Hikaru: Moriarty the Patriot, Band 1; Carlsen Manga, 2020, 3. Auflage

Doyle, Arthur Conan/Takeuchi, Ryosuke/Miyoshi, Hikaru: Moriarty the Patriot, Band 2; Carlsen Manga, 2020, 3. Auflage

Beauchesne, Lise, M. (1997): As if born to: The social construction of a deficit identity position of adopted persons; Wilfrid Laurier University

Dudley, Shawna: Chapter 1: A Historical Overview of Adoption in the Nineteenth-Century; in: Dudley, Shawna (2001): A Chameleon Role: How Adoption Functions in Nineteenth-Century British Fiction; Alberta; S. 11–26

Novy, Marianne: Reading Adoption. Family and Difference in Fiction and Drama, University of Michigan Press, 2008, S. 1-36

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